Der Gewinner der Digitalisierung wird Deutschland sein
Marc Beise von der Süddeutschen Zeitung stellte in der Landeszentrale für politische Bildung sein Buch „Deutschland digital. Unsere Antwort auf das Silicon Valley“ vor. Darin geht er auf Versäumnisse und neue Chancen ein.
Dresden. Marc Beise traute seinen Ohren nicht. Hatte er während seiner Tour durchs amerikanische Silicon Valley im Jahr 2015 angesichts der technischen Entwicklung und der vielen genialen Ideen schon geglaubt, Deutschland könne einpacken und sei chancenlos, hörte von einem Cisco-Manager plötzlich ganz andere Töne. „Ich hatte ein Gespräch mit Chuck Robbins, der damals der zweite Mann bei Cisco war und heute das Unternehmen führt. Ganz überraschend sagte er auf einmal: Ihr seid die Zukunft, ihr werdet die Welt prägen. Der Gewinner der Digitalisierung wird Deutschland sein“, erinnert sich der Wirtschaftschef der Süddeutschen Zeitung an das Gespräch.
Mittlerweile hat Beise diese und andere Geschichten gemeinsam mit Ulrich Schäfer in dem Buch „Deutschland digital. Unsere Antwort auf das Silicon Valley“ niedergeschrieben. Auf Einladung der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung war der Journalist im Mittwoch in Dresden und präsentierte sein Werk vor einem Publikum, das mit jeder Menge Fachwissen und intelligenten Fragen glänzte.
In seinem Referat zeigte der 57-Jährige immer wieder Situationen auf, in denen die deutsche Industrie in den vergangenen Jahrzehnten Chancen vertan hat. „Drei Jahre nach der Gründung 1976 waren Manager des Netzwerkausrüsters Cisco bei Siemens und haben gefragt, ob das deutsche Unternehmen sich beteiligen möchte. Die damalige Führungsriege von Siemens fand das aber völlig daneben. Die haben einfach das Potenzial der Firma nicht gesehen, die im Jahr 2000 mit einer Bewertung von 55 Milliarden US-Dollar zum wertvollsten Unternehmen der Welt avancierte“, so Beise.
Das selbstfahrende Auto wurde in Deutschland erfunden
Ähnlich war es auch beim autonomen Fahren. Während heute viele denken, es sei von Google erfunden worden, klärte der Ressortleiter auch in diesem Punkt das Publikum auf. „Das autonome Fahren ist eine Erfindung von Daimler Benz aus den 1980er Jahren. „Der damalige Chef Edzard Reuter hatte die Vision, Daimler zu einem Technologiekonzern zu machen, was auch heutiger Sicht sehr visionär war.“ Das autonome Fahren sei damals intensiv getestet worden. So habe es S-Klassen gegeben, die vollkommen selbstständig mit 180 Stundenkilometern über Autobahnen in Süddeutschland gebraust seien. „Die Autos waren im hinteren Teil vollgestopft mit Computertechnik. Und vorne saß zwar ein Fahrer, aber der musste nicht mehr eingreifen“, sagt Beise.
Trotz dieses technischen Vorsprungs kam es wenig später zu einem abrupten Stopp in der Entwicklung. „Jürgen Schrempp, der Edzard Reuter an der Spitze von Daimler ablöste, hielt nicht so viel von dem Projekt und stellte es ein. Er soll sich eher über die ‚Daniel Düsentriebs‘ in seinem Haus lustig gemacht haben“, sagt der Autor.
Ein Grund könnte auch gewesen sein, dass man zu dieser Zeit noch riesige Rechner benötigte, die eine Serienreife unrealistisch machten. „Gerade in diesem Punkt ist die Veränderung enorm. Die Leistung eines Militärrechners aus dem Jahr 1996, der eine Fläche von 150 Quadratmeter benötigte, passte 2005 bereits in eine kleine, handliche Sony Playstation 3“, so Beise.
Datenflut und Vernetzung verkürzen Innovationszyklen
Genau in diesem Punkt sah der Journalist auch die größten Unterschiede zu früheren Innovationszyklen. „90 Prozent aller Daten weltweit sind in den vergangenen zwei Jahren generiert worden. Seitdem verdoppelt sich das Datenvolumen jährlich“, sagt Beise und fügt an: „Auch in meiner Redaktion ist manchen nicht klar, was das bedeutet. Wenn man von Dingen wie selbstfahrenden Autos und intelligenten Robotern spricht, lächeln einige Kollegen und sagen: Das dauert noch. Durch die unglaubliche Zahl an Daten, die heutige Rechenleistung und die Vernetzung ist das Wachstum aber exponentiell, so dass beispielsweise Elektromobilität ein Thema ist, das nicht irgendwann kommt, sondern schon sehr bald in unserem Alltag eine Rolle spiele wird.“
Dass in den Unternehmen diesbezüglich ein Umdenken einsetzt, hat der Journalist in den vergangenen Jahren registriert. „Es hat lange gedauert, aber seit etwa vier, fünf Jahren haben Firmen wie beispielsweise die Telekom, Bosch oder Daimler begriffen, was die digitale Revolution bedeutet und ergreifen ihre Chancen.“ So verstehe sich Daimler heute nicht mehr nur als Autokonzern, sondern als Moblitätskonzern, der zwar in erster Linie Autos produziere, aber auch Dinge wie Car Sharing anbiete. „Gleiches gibt es auch im Mittelstand zu beobachten. Der Junior-Chef bei Viessmann, der das Unternehmen von seinem Vater übernommen hat, setzt mit Erfolg auf die Digitalisierung. Die Heizöfen haben heute Sensoren, die rechtzeitig auf Probleme aufmerksam machen und auch Fernwartungen ermöglichen.“
Diese und ähnliche Industrieanwendungen arbeitete Beise dann auch als den Bereich heraus, in dem Deutschland das größte Potenzial habe. „Die zweite Halbzeit hat begonnen, und wir sind dafür sehr gut gerüstet. Wir werden zwar keine neuen Sharing-Plattformen entwickeln. Das ist nicht unsere Stärke. Aber wir haben wir die besten Produzenten und die besten Ingenieure der Welt, so dass wir beim Thema Industrie 4.0 hervorragend aufgestellt sind“, sagt Beise.
Unternehmen kaufen Startups, die das Geschäftsmodell des Mutterhauses bedrohen
Neben den technischen Veränderungen machte der Journalist auch auf einen Mentalitätswandel aufmerksam. „Springer-Manager Christoph Keese hat in seinem zweiten Buch über das Silicon Valley etwas Interessantes geschrieben. Er erzählte davon, dass sich der Vorstand des Unternehmens bei Investitionen in Startups in der Vergangenheit immer gefragt habe, ob sie das klassische Geschäftsmodell von Springer gefährden würden oder nicht. Während früher jedoch nicht investiert wurde, wenn das der Fall war, ist es heute umgekehrt.“ Der Konzern gebe Geld für Firmen aus, die das Stammhaus herausfordern. Auch bei anderen deutschen Konzernen sei das zu beobachten, so Beise.
Ausdrücklich positiv zeichnete der Wirtschaftsjournalist in dem Prozess das der Bild er deutschen Politik. „Obwohl ich sie manchmal auch kritisch sehe, muss man anerkennen, dass sich unsere Bundeskanzlerin beim Thema Digitalisierung äußerst gut auskennt. Angela Merkel redet zwar nicht so viel darüber, trifft sich aber regelmäßig mit den Managern von IT-Unternehmen, um stets auf dem neuesten Stand zu sein“, sagt der 57-Jährige.
Günstig bewertete er für die Aufholjagd auch die föderale Struktur Deutschlands. „Bei uns konzentriert sich nicht alles so stark auf einen Ort. Wir haben zwar eine lebendige Startup-Szene in Berlin, aber, mit anderen Akzentuierungen, auch in München, Köln und Hamburg.“ Zudem gebe es viele spannende Dinge, von denen kaum jemand etwas wüsste. „Nur wenigen ist zum Beispiel bekannt, dass in Kaiserslautern und Saarbrücken an Max-Planck-Instituten weltweit angesehene Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz forschen“, sagt Beise.
Im Anschluss an das Referat des Journalisten nutzen die Besucher ausgiebig die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Ein Thema war unter anderem das bedingungslose Grundeinkommen, das ein Besucher quasi für die „Opfer“ der Digitalisierung ins Gespräch brachte. „Ich bin dagegen, weil der Mensch Leistungsanreize braucht. Abgesehen davon wissen wir ja auch gar nicht, ob viele Menschen durch den technischen Fortschritt arbeitslos werden. Bei früheren Erfindungen haben das auch einige gedacht und dann ist es ganz anders gekommen“, gab der Journalist zu bedenken.
Ein anderes Thema trieb indes einen älteren Mann im Nachgespräch um, der meinte, dass der Journalist aus dem Westen den Osten zu wenig kenne. „Sie wissen viel über das Silicon Valley und Baden Württemberg, aber über unser Sachsen mit der erfolgreichen Chipindustrie haben sie nichts gesagt. Kurt Biedenkopf und Kajo Schommer haben die Industrie nach der Wende nach Sachsen geholt und es hat sich alles prächtig entwickelt.“
Stephan Hönigschmid